Offener Unterricht
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Kommentar
Jürgen Göndör, November 2019



Wie kommt es, daß JournalistInnen auch nach mehr als 15 Jahren immer noch nicht wissen, was Offener Unterricht eigentlich ist.


April 2013 - Juni 2013 - Juni 2014 - November 2019 -


Wer mit Google oder einer anderen Suchmaschine nach dem Begriff 'Offener Unterricht' in den NEWS sucht, bekommt penetrant seit mehr als 15 Jahren aufgetischt, dass Offener Unterricht ein 'Blick hinter die Kulissen' von Schulen ist - z.B. am Tag der offenen Türe. Das liegt nicht an den Suchmaschinen, sondern am unzureichenden Wissensstand der Schreiberlinge dieser Artikel. So in der Rothenburger Rundschau vom 14. 12.2018 oder die Südwest Presse vom 9. 10. 2019 oder der Badischen Zeitung vom 25. 2. 2019. Aber es geht noch schlimmer: Die 'Hamburger Morgenpost' vom 22.5.2019 betet den haarsträbenden Unsinn des Jugendpsychiaters Dr. Michael Winterhoff aus Bonn, dem 'Sarrazin der Schulszene' (Bestseller: Deutschland verdummt) nach: Der Psychiater halte das Konzept des offenen Lernens und Spielens für gescheitert. Er behaupte: "Erst ab 15, 16 Jahren fange ich an, für mich zu lernen. Vorher lerne ich für das Lob von Bezugspersonen wie Lehrer und Eltern." Quatsch! Jedes Kind lernt vom ersten Lebenstag an nur für sich: Krabbeln, Laufen, Rennen, Sprechen, seine Muttersprachen (manchmal mehrere: Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch - vor der Schule), Balancieren, Klettern, Radfahren, ... . Nicht jedoch für das Lob von Bezugspersonen, sondern deshalb, weil es mit seiner Umgebung kommunizieren will, weil es Fähigkeiten und Fertigkeiten können will. Und alles ganz ohne Arbeitsblätter, Klassenarbeiten, Hausaufgaben, Noten, Tests, ... . Einfach deshalb, weil es lernen will - nicht weil es muss. Mit der Schule kehrt sich das um. Ein Kind lernt hier deshalb schlecht, weil es etwas lernen soll, wofür ihm das rechte Interesse fehlt.

Tatsache ist, dass es in Deutschland nur ganz wenige Schulen gibt, die darauf verzichten den SchülerInnen vorzuschreiben, was sie zu lernen haben, sondern ihnen die Freiheit einräumen, das zu lernen, was sie interessiert. Sie machen sich die Einsicht zunutze, dass z.B. Schüler, die im regulären Unterricht nicht all das lernen wollen, was sie lernen sollen, im Offenen Unterricht aber das lernen können, was sie lernen wollen.

Es ist das uralte Phänomen, dass Schüler, die sich z.B. keine Vokabeln oder Formeln merken, kein Einmaleins aufsagen können, aber gleichzeitig im Fußball die Spieler von mehreren Vereinen namentlich benennen können, die Torverhältnisse fehlerfrei herunterrattern und wissen, wie viele Ecken oder 11-Meter geschossen wurden. Sie kennen die Spielregeln genau und können jeden Verstoß eindeutig zuordnen. Mit Erwachsenen diskutieren sie Spiele auf Augenhöhe und sie sind auch problemlos in der Lage andere zu überzeugen oder auch eine andere begründete Meinung zu akzeptieren. Erstaunlicher Weise ohne LehrerInnen, ohne Abfrage und Klassenarbeit, ohne Hausaufgaben.

Einfach, weil sie es wissen wollen, weil es sie interessiert. Célestin Freinet hat dieses Phänomen so beschrieben: 'Wenn Fahrradfahren nur in der Schule erlernt würde und nirgends sonst, würde kaum ein Erwachsener mit dem Fahrrad fahren.' Kinder lernen Radfahren nicht in der Schule, sondern im Leben, wenn es für sie dran ist, wenn sie Fahradfahren können möchten.

Warum soll sich Schule also dieses 'selbst Wissen wollen und selbst Können möchten' nicht zunutze machen.

Einmal als Gedankenspiel: Wenn jede SchülerIn in der Zeit, die sie/er in der Schule ist, das lernen dürfte, was sie/er lernen will - müssten LehrerInnen sich nicht mehr bemühen, einem Haufen unwilliger SchülerInnen etwas im Lerngleichschritt beizubringen, sondern bräuchten nur dafür zu sorgen, dass jede SchülerIn all das, was sie/er lernen will auch lernen kann.

Dass das geht ist allerdings kein Gedankenspiel, sondern bewiesene Realität.

Schon Hartmut von Hentig hat beschrieben, wie ein Schüler, der im Regelunterricht trotz aller Bemühungen der Lehrer daran scheiterte, Lesen und Schreiben zu lernen, dann an die Glocksee-Schule wechselte, und dort in dieser freien Atmosphäre ohne den Lerndruck durch LehrerInnen diese Grundfähigkeiten in wenigen Wochen erlernte. Aus der alternativen Schule Summerhill ist bekannt, dass ein Junge die Schule mit 15 Jahren verließ, ohne Lesen und Schreiben zu können. Er sagte von sich selbst, es habe ihn nicht interessiert. Er habe aber das Vertrauen gehabt, mit seinen Händen arbeiten zu können und mit der Welt zurecht zu kommen. Er trampte zwei Jahre durch die Welt und fasste dann den Entschluss, doch noch Lesen und Schreiben zu lernen. Das gelang ihm in wenigen Monaten. Er holte Schulabschlüsse nach und studierte, incl. Universitätätsabschluss.

Falko Peschel hat das 2003 mit ganz normalen SchülerInnen an einer deutschen Grundschule durchgezogen und diese Zeit und die Lernergebnisse seiner SchülerInnen in seiner Dissertation dokumentiert. Dass auch die sog. 'schwachen' Schülerinnen ohne den üblichen Lerndruck einer Schule erfolgreich lernen können, hat er wissenschaftlich belegt. Er hat den SchülerInnen ermöglicht, das zu lernen, was sie von sich aus lernen wollten. Er hat konsequent darauf verzichtet den üblichen Stoff zu lehren. Es gab keinen regulären Stundenplan - klar, es wollen nicht alle SchülerInnen in einer Klasse gleichzeitig an einer vorgegebenen Fragestellung arbeiten. Nach eigener Aussage hat er allerdings konsequent 'das Lernen hoch gehalten', d.h. er hat die SchülerInnen ermutigt ihren Fragen an die Welt nachzugehen, selbst zu erforschen, selbst zu untersuchen. Er hat den SchülerInnen Rückmeldungen über ihr Tun und nicht Tun gegeben, ohne daraus Lerndruck zu machen. Er hat auch seine SchülerInnen ermutigt selbst nachzudenken.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Er hat keinem Kind Lesen und Schreiben beigebracht. Er hat auch keinem Kind Rechnen und Geometrie beigebracht. Kein Kind aus seiner Klasse musste zur Sonderschule abgeschult werden. Niemand war überfordert. Niemand musste etwas lernen, was ihn nicht interessierte. Niemand wurde mit dem verglichen, was andere in der Klasse schon konnten. Etwas noch nicht zu wissen oder noch nicht zu können geriet nie zum Vorwurf, sondern war immer nur eine Anregung, sich vielleicht damit zu beschäftigen.

Nach vier Jahren gab es ein erstaunliches Ergebnis. Aus dieser Klasse erreichten selbst die SchülerInnen, die eigentlich zur Sonderschule abgeschult werden sollten und probehalber in Peschels Klasse wechseln durften, einen durchschnittlichen Schulabschluss. Zum Gymnasium wechselten mehr SchülerInnen, als aus Parallelklassen und besuchten dort erfolgreich den Unterricht. Ganz überraschend war, dass die SchülerInnen im Durchschnitt ihrer Altersgruppe ein bis eineinhalb Jahr im Lernstoff voraus waren.

Inzwischen, ist Falko Peschel Direktor an einer staatlichen Schule und unterrichtet dort erfolgreich mit seinen KollegInnen nach seinem Konzept. Es gibt eine Webseite zum Offenen Unterricht und mehrere Schulen, auch in England, in Österreich und der Schweiz, die mit dem Konzept arbeiten, die SchülerInnen darin zu unterstützen, erfolgreich das zu lernen, was sie jetzt wirklich interessiert. Und das kann schon nach 10 Minuten etwas anderes sein. Wichtig ist nur, dass das Kind lernt das zu tun, was ihm wichtig ist. Lernen passiert dann von selbst.

Walter Hövel, ehemaliger Direktor der Grundschule Harmonie in Eitorf, Freinetpädagoge, bestätigt aus seiner Arbeit den langjährigen Erfolg dieses Konzepts. Anstatt morgens zu den SchülerInnen zu sagen: 'Ich hab für heute etwas vorbereitet' fragt er sie: 'Was macht ihr heute?' Er stellt damit die übliche Situation auf den Kopf. Die SchülerInnen können ihre Interessen kundtun und dann wird überlegt, wie sie an ihren Lernvorhaben arbeiten möchten, woher sie Informationen bekommen, wo sie nachlesen oder wen sie fragen können und was andere in der Klasse dazu vielleicht schon wissen.

Eine Lehrerin, die direkt nach dem Referendariat mit Walter Hövel in einer Klasse unterrichtete und brav ihren geplanten Unterricht - wie an Uni und im Referendariat gelernt - abspulte, wurde von den Kindern aufgefordert, sie doch endlich wieder das lernen zu lassen, was sie - die Kinder selbst - interessierte. Sie wollten selbst ihre Fragen überlegen und selbst nach Antworten suchen. Dabei sollte die Lehrerin ihnen helfen.

Damit ist nicht gemeint, dass LehrerInnen geschickt die Situation nutzen, um von hinten durch die Brust ins Auge doch noch den Kindern den Lehrplan unterjubeln können. Nein, nein, es geht wirklich nur um die Fragen der Kinder. Nicht um die Fragen, die an dieser Stelle aus Lehrersicht gestellt werden könnten oder sollten.

Der Neurobiologe Manfred Spitzer sagt: 'Das Gehirn ist von der Evolution her auf Lernen hin optimiert und kann nichts anderes und kann nichts besser.' Kinder lernen weil sie lernen wollen.

Der Gehirnforscher Gerald Hüther, der es sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Ergebnisse seiner Forschung für Schule verständlich zu machen, sagt auf youtube.de: "Wissen kann man nicht beibringen, das müssen sich die Kinder selbst ins Hirn bauen. Das weiß die Neurologie schon längst." und fragt: 'Wieso versagen unsere Schulen?'. Es sei immer darum gegangen leistungshomogene Klassen zusammenzustellen, weil man denen dann Wissen einfacher beibringen könne. Das habe jedoch nur zu Wettbewerb geführt: 'Kann ich bessere Noten erreichen als meine MitschülerInnen'. Er plädiert daher für altersinhomogene Klassen. Warum meinen Lehrer und leider auch Journalisten - und natürlich auch Politiker - immer noch, Lernen sei nur möglich mit Druck und im Gleichschritt im Klassenverband. Es müsse unbedingt die LehrerIn festlegen, wann was von allen gemeinsam gelernt werden muss. Dabei scheitern gerade nicht wenige SchülerInnen genau an dieser hirnrissigen Anforderung.

Autor: Jürgen Göndör
E-Mail: service@offener-unterricht.net
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