Offener Unterricht
Was ist 'Offener Unterricht' Literatur/Medien Schulen - Praxis Forschung Blog

Warnung vor didaktischen Allaussagen und pädagogischen Heilsversprechen!

Gutachten zu

Jansen, Fritz/ Streit, Uta: Positiv lernen. Das IntraActPlus-Konzept


Springer Medizin Verlag: Heidelberg (2. Aufl.), 2006.

und

Jansen, Fritz, u. a.: Lesen und Rechtschreiben lernen


nach dem IntraActPlus-Konzept. Springer: Heidelberg, 2007.

im Auftrag des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM)

von Prof. Dr. Hans Brügelmann (Universität Siegen)1


zur ausführlichen Begründung (Langfassung)

Vorweg eine Kurzfassung, in der die wichtigsten Argumente und Einschätzungen des ausführlichen Gutachtens für einen raschen Überblick knapp zusammengefasst sind:

Die Konzeption von IntraActPlus (IAP) ist lerntheoretisch zweifelhaft, fachdidaktisch unhaltbar und grundschulpädagogisch nicht wünschenswert. Eine Einführung von IAP im Vor- und Grundschulbereich ist insofern aus mehreren Gründen äußerst problematisch.

Zur Begründung:
  • Lerntheoretisch ist zu kritisieren, dass IAP trotz wiederholt behaupteter Modernität einem veralteten behavioristischen Ansatz verpflichtet bleibt; auch die Bezüge auf neurophysiologische Modelle und Studien sind unvertretbar verkürzt.

  • Lesedidaktisch setzt IAP einseitig auf einen eng synthetischen Aufbau vom Einzelbuchstaben her - ohne angemessene sprachwissenschaftliche Basis und obwohl sich aufgrund von vielfältigen Forschungsbefunden ein analytisch-synthetischer Zugang als notwendig erwiesen und in den meisten didaktischen Konzeptionen der letzten Jahrzehnte auch international durchgesetzt hat.

  • Pädagogisch fragwürdig ist, dass IAP für alle Kinder den gleichen Lernweg strikt vorschreibt und ihn kleinschrittig steuert Ð obwohl Selbstständigkeit ein zentrales Prinzip des Grundschulunterrichts ist und obwohl Schulanfänger wegen ihrer breit streuenden Vorerfahrungen mit Schriftsprache und wegen ihrer unterschiedlichen inhaltlichen Interessen und Lernstile Raum für verschiedene Zugänge und Aneignungsschritte brauchen.

  • Motivationspsychologisch ist bedenklich, dass IAP die Kinder beim Trainieren sinnloser Silben abhängig macht von einer Bestätigung von außen, statt durch das Erlesen von Sinnvollem und für sie persönlich Interessantem ihre autonome Leseneugier zu stärken und als ãMotorÒ selbstständigen Lesens dauerhaft zu sichern. Die Handlung des Lesens wird vom Sinnverstehen - als zentralem Element erfolgreichen Lesens - abgekoppelt, so dass letzteres anschließend (vermutlich durch ein weiteres TrainingÉ) erst wieder aufgebaut werden muss.

  • IAP hat keine wissenschaftlich diskutierbaren Belege vorgelegt, dass es in der Einzeltherapie wirksamer ist als alternative Förderprogramme. Vor allem aber wurde es nicht unter Normalbedingungen in Klassenzimmern evaluiert - weder im Blick auf die (relativ engen) eigenen Trainingsziele noch hinsichtlich der durch die Bildungsstandards und andere staatliche Vorgaben geforderten übergreifenden Lernziele und deren eventueller Beeinträchtigung.

Die verschiedentlich in der Tagespresse berichteten Erfolgsmeldungen aus der Praxis reichen als Rechtfertigung für eine Einführung von IAP nicht aus. Aus der Innovationsforschung sind sowohl Pionier- als auch Placeboeffekte bekannt, die überraschende Erfolge neuer Therapien oder Förderkonzepte unabhängig vom methodischen Ansatz erklären können. Zudem ist in der Pädagogik eine Methode nicht schon deshalb akzeptabel, weil sie ãfunktioniertÒ und ãwirksamÒ ist. Der Umgang mit Heranwachsenden in öffentlichen Schulen unterliegt auch normativen Vorgaben von Richtlinien und Lehrplänen.

Angesichts der radikalen Abkehr vom internationalen state of the art in der Forschung zum Schriftspracherwerb, in der Lese- Schreibdidaktik und in der Grundschulpädagogik verbietet sich eine Einführung von IAP in der Breite. Voraussetzung für einen solchen Schritt wäre eine sorgfältige und unabhängige Erprobung in begrenztem Rahmen. Auch deren Zulassung sollte allerdings von den Ergebnissen einer sorgfältigen Prüfung der theoretischen Annahmen und normativen Prinzipien des IAP-Konzepts abhängig gemacht werden.

zur ausführlichen Begründung (Langfassung)


1 Im Detail verantworte ich dieses Gutachten alleine. Ich danke aber einer Reihe von KollegInnen, u. a. aus den Bereichen Sprachdidaktik, Grundschulpädagogik, Psychologie und Hirnforschung, die zu einem ersten Entwurf kritisch-konstruktiv Stellung genommen haben. Die im Folgenden Genannten tragen diese Stellungnahme mit ihrer unterrichtspraktischen und wissenschaftlichen Fachkompetenz in den Kernaussagen mit und unterstützen die zentralen Kritikpunkte nachdrücklich (vgl. zur breiten Streuung ihrer professionellen Funktionen, inhaltlichen Arbeits- bzw. Forschungsschwerpunkte und fachdidaktischen Positionen die Erläuterungen zur Person im Anhang der Langfassung und die dort im Literaturverzeich-nis zitierten Publikationen): Andresen, Ute; Backhaus, Axel; Balhorn, Heiko; Bambach, Heide; Bartnitzky, Horst; Bergk, Marion; Bos, Wilfried; Brinkmann, Erika; Danckwerts, Babette; Dehn, Mechthild; Drecoll, Frank; Erichson, Christa; Foo-ken, Insa; Franzkowiak, Thomas; Füssenich, Iris; Garlichs, Ariane; Hofmann, Bernhard; Hüther, Gerald; Hüttis-Graff, Pe-tra; Jantzen, Christoph; Kluge, Wolfhard; Kochan, Barbara; Kruse, Norbert; Largo, Remo; Löffler, Cordula; May, Peter; Metze, Wilfried; Müller-Naendrup, Barbara; Nickel, Sven; Rackwitz, Rüdiger-Philipp; Ramseger, Jörg; Richter, Sigrun; Röbe, Edeltraud; Röber, Christa; Schneider, Wolfgang; Schönknecht, Gudrun; Spitta, Gudrun; Valtin, Renate; Weinhold, Swantje; Wespel, Manfred.

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