Kommentar
Jürgen Göndör, April 2013
Ist überall da, wo 'Offener Unterricht' draufsteht auch 'Offener Unterricht' drin?
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Immer wieder liest man von Studien oder Untersuchungen, die angeblich beweisen, dass:
- 'Offener Unterricht' nachteilig für schwache SchülerInnen sei
- 'Offener Unterricht' einem straffen Frontalunterricht unterlegen sei - die Lernergebnisse seien im Frontalunterricht einfach besser
- 'Offener Unterricht' verhindere, dass SchülerInnen auf das Leben in dieser Gesellschaft richtig vorbereitet werden - man müsse rechtzeitig vermitteln, dass man nicht immer das machen könne, was man will
- die Kinder selbst ja den Leistungsvergleich und Noten wollen
- SchülerInnen vom Gymnasium von der LehrerIn erwarten, dass der weis und sagt, was gelernt werden soll
- SchülerInnen von weiterführenden Schulen den 'Offener Unterricht' ablehnen, weil er in ihren Augen nicht effektiv ist
- ...
Sieht man sich diese Untersuchungen und Studien genauer an, so fällt sofort auf, dass das was mit 'Offener Unterricht' bezeichnet wird, gar nicht genau definiert ist. Das hängt damit zusammen, dass 'Offener Unterricht' mehr als dreißig Jahre lang in der pädagogischen Diskussion ein gerne benutzter Begriff war, um sich von dem abzusetzen, was mit 'Frontalunterricht' bezeichnet wurde und in Schulen auch heute immer noch eine häufig anzutreffende Unterrichtsform ist.
Gemeint ist ein Unterricht, bei der die LehrerIn vor der Klasse steht und alle Kinder jederzeit ihm Blick hat. Die festlegt, was im Unterricht heute gelernt werden soll, das auch kontrolliert, überpfüft und bewertet. Der Volksmund sagt dazu: "Wenn alles schläft und einer spricht, dann heist das Ganze: Unterricht!"
Vernebelnd wird dieses Unternehmen auch 'lehrerzentrierter Unterricht' genannt, um die zum Kampfbegriff verkommene Bezeichnung 'Frontalunterricht' zu vermeiden.
Tatsache ist jedoch, dass in der Regelschule heute - egal wie der Unterricht benannt wird: Stationenlernen, Wochenplanunterricht, Projektunterricht, ... - das komplette Geschehen von der LehrerIn bestimmt wird. Sie legt im Blick auf den Lehrplan bzw. den Stoffverteilungsplan fest, was gelernt werden muss. Sie bestimmt, welche Lernmethode angewendet wird: Lehrervortrag, Gruppenarbeit, Stillarbeit, Stationenlernen, Wochenplan, ... Sie gibt die Lernzeiten vor, entscheidet über Beginn und Ende von Lernphasen. Sie kontrolliert alle Schüleraktivitäten in der Klasse und nimmt auch über Hausaufgaben Einfluss auf das, was SchülerInnen außerhalb von Schule machen - zumindest versucht sie das.
SchülerInnen sitzen auf ihrem Platz - bis zu acht Unterrichtsstunden am Tag - und beschränken sich aufs Zuhören und Ausführen von Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden. Meistens wird auch noch bestimmt, wer mit wem etwas bearbeiten soll. Nicht unbedingt namentlich, aber aufstehen und einen Wunschpartner wählen ist nicht. Schüler sind im Unterricht auf den Quadratmeter ihres Sitzplatzes festgelegt. Trinken, mal in die Stulle beißen sind im Unterricht ein absolutes no-go - dafür sind ja die Pausen vorgesehen. Auch die können SchülerInnen aber nicht verbringen wo und wie sie wollen. Sie müssen meistens den Klassenraum und auch das Schulgebäude verlassen und sich auf einer geteerten Fläche, dem Schulhof, aufhalten. Rasenflächen dürfen in der Regel nicht betreten werden.
Die Schülermitbestimmung ist meist sowieso kein Ruhmesblatt für Schulen. In Bezug auf das Unterrichtsgeschehen ist sie ein zahnloser Papiertieger.
Offener Unterricht ist mit diesem Procedere unvereinbar. Trotzdem hat der Begriff 'Offener Unterricht' offensichtlich einen Klang, der Bildungspolitiker, Kultusministerien, Schulbehörden, Universitätsprofessoren und Dozenten, Lehrerfortbildner, Schulen und Lehrer immer wieder dazu bringt, offenen Unterricht einzufordern, die Öffnung von Schule zu propagieren, das eigene unterrichtliche tun als 'Offenen Unterricht' zu verkaufen.
'Offener Unterricht' ist kein geschützter Begriff. Er war über dreißig Jahre hinweg nicht einmal ein wissenschaftlicher Begriff. Es war, wie Eiko Jürgens zu Recht feststellte, ein Slogan, ein Modebegriff mit dem sich PädagogInnen gerne schmückten.
Dann legte Falko Peschel 2003 mit seiner Dissertation nicht eine solche begriffliche Festlegung vor, sondern ein gestuftes Bestimmungsraster, mit dem man die tatsächliche Offenheit von 'Offenem Unterricht' sehr genau einschätzen konnte.
Er schlug fünf Dimensionen vor:
- organisatorische Offenheit (Bestimmung der Rahmenbedingungen: Raum, Zeit, Sozialformwahl usw.),
- methodische Offenheit (Bestimmung des Lernweges auf Seiten des Schülers),
- inhaltliche Offenheit (Bestimmung des Lernstoffes innerhalb der Offenen Lernvorgaben),
- soziale Offenheit (Bestimmung von Entscheidungen bzgl. der klassenführung bzw. des gesamten Unterrichts, der (langfristigen) Unterrichtsplanung, des konkreten Unterrichtsablaufes, gemeinsamer Vorhaben usw. Bestimmung des sozialen Miteinanders, dem Erstellen von Regeln und Regelstrukturen usw.)
- persönliche Offenheit (Beziehung zwischen Lehrer/Kindern und Kindern/Kindern)
Jede Dimension hat sechs Abstufungen von 'weitestgehend' - 'schwerpunktmäßig' - 'teils/teils' - 'erste Schritte' - 'ansatzweise' bis 'nicht vorhanden'.
Mit diesem Bestimmungsraster kann nun jeder Unterricht in Bezug auf seine Offenheit verortet werden. Damit sind alle Definitionen und Definitionsvorschläge gegenstandslos. 'Offener Unterricht' ist weder eine Bewegung noch ein Slogan (Eiko Jürgens). Alle Versuche die heren Begriffe wie Chancengleichheit oder Demokratie/Mitbestimmung, Selbstbestimmung, usw. auf die Unterrichtsebene herunterzubrechen, können mit dem Bestimmungsraster konkret eingestuft werden.
Diese Möglichkeit hat jedoch auch eine Folge, die offensichtlich bisher weitgehend immer noch übersehen wird: Immer dann, wenn von 'Offenem Unterricht' die Rede ist, steht dieser Offene Unterricht plötzlich diesem Bestimmungsraster gegenüber.
Genau genommen kann Offener Unterricht also nicht mehr in dem bisherigen Verständnis (Slogan) verwendet werden. Wer es dennoch tut, hat seine Hausaufgaben nicht gemacht und belegt damit, dass er die pädagogische Diskussion seit 2003 nicht zur Kenntnis genommen hat.
Denn es stellt sich nämlich heraus, dass das was als 'Offener Unterricht' verkauft wurde und wird, sich "primär durch die größeren Wahlmöglichkeiten bzw. Freiheiten der Kinder im Gegensatz zu sonst üblichen frontalen Unterrichtsformen" [Peschel, Falko (2006): Offener Unterricht in der Evaluation, S. 13] auszeichnet/e. Freiheit verkommt zu einer 'Freiheit, nicht direkt einer Lehreranweisung Folge leisten zu müssen' [Vgl. Ebenda]. Die frontale Lehrerstellung im Unterricht in Bezug auf die Schüler wurde und wird durch materialzentrierte Lehrgänge ersetzt, die natürlich vorher von der LehrerIn ausgearbeitet worden sind und so die Arbeitsanweisungen von der Lehrperson in den Lehrgang, auf das Material verlagern.
Offener Unterricht ist also zumeist gar nicht in allen Dimensionen offen, sondern nur in der Dimension organisatorische Bedingungen mehr oder minder offen. Dieser schüchtern geöffnete unterricht wird aber trotzdem vollmundig als Offener Unterricht bezeichnet. Der Vergleich mit der Lebensmittelindustrie drängt sich förmlich auf: Auf dem Erdbeerjoghurt sind auf dem Becher mehrere leckere Erdbeeren als ganze Frucht zu sehen, drin sind aber nur kleine Fitzelchen Frucht, von denen unklar ist, ob es wirklich Erdbeeren sind.
Wo also 'Offener Unterricht' draufsteht, muss nicht unbedingt 'Offener Unterricht' drin sein - oft ist eben nur ein wenig geöffneter Unterricht drin, nur ein Fitzelchen halt.
Hans Brügelmann merkt zu Untersuchungen über Offenen Unterricht an, dass in der Regel Schulleiter über ihre Schule oder LehrerInnen über ihren eigenen Unterricht berichten. diese Studien müssten also um Beobachtungen Dritter ergänzt werden, die den stattgefundenen Unterricht nach einheitlichen Kriterien einschätzen. Überdies werde der Begriff 'Offenheit' sehr unscharf verwendet: Es sei gar nicht auszumachen, was die einzelnen befragten Lehrer unter 'Offenheit' verstehen und in welchem Maße sie dieses Verständnis auch in ihrem Unterricht verwirklichen. [Brügelmann, Hans (1997): Öffnung des Unterrichts aus der Sicht von LehrerInnen - Projekt Oase 'Offene Arbeits- und Sozialformen entwickeln', Bericht 3a, S, 6]
Marion Wieczorek kommt zu der Feststellung: "Im Offenen Unterricht beschäftigen sich die Schüler häufig mit didaktisch zubereiteter Wirklichkeit, die ihnen in Arbeitsmitteln repräsentiert wird." [Wieczorek, Marion (2006): Offener Unterricht in seiner Bedeutung für Schüler mit Körperbehinderungen - Eine kritische Reflexion, in: VHN, 75. Jg. S. 134]
Es geht also immer um einen Offenen Unterricht, der nur teilweise und nur stundenweise nach Selbsteinschätzung der Unterrichtenden durchgeführt wird. In keinem Fall geht es um Offenen Unterricht, der als durchgängiges Unterrichtsprinzip durchgehalten wird.
Es gibt noch eine weitere Kritiklinie. Wenn der Maßstab des Regelunterrichtes benutzt wird, um Offenen Unterricht im Vergleich zu messen, ergibt sich zwangsläufig, das der Frontalunterricht/lehrerzentrierte Unterricht an seinem Maßstab gemessen immer die Nase vorne hat. Anders gesagt: Wer mit einem Mess-Instrumentarium für Äpfel anfängt Birnen zu messen, wird als Messergebnis sehr wahrscheinlich immer herausfinden, dass Birnen nunmal die schlechteren Äpfel sind.
By the way: In England hat die für Schulen zuständige Behörde unter Minister David Blunkett in der Regierungszeit von Tony Blair dann auch tatsächlich herausgefunden, dass an der Schule Summerhill die Schülerinnen der sechsten und siebenten Klassen in Mathematik deutlich schlechter abschnitten als die SchülerInnen an regulären Schulen. Es war auch schnell klar, woran das lag: Die SchülerInnen von Summerhill durften dem Unterricht fernbleiben wenn sie ihn nicht besuchen wollten. Die Schule sollte geschlossen werden, wenn sie den SchülerInnen weiterhin das Fernbleiben vom Unterricht erlauben würde. Erst ein Gerichtsurteil bestätigte der Schule Summerhill diese Freiheit mit der bemerkenswerten Aussage: 'Lernen findet nicht nur während der Unterrichtszeit statt!' Die Delle in den Mathekenntnissen bügeln die SchülerInnen locker aus, wenn sie dann ihre Abschlussprüfungen ablegen. Diese Noten liegen leicht über dem Landesdurchschnitt. Das was gemessen wird, taugt also auch nicht für eine Prognose.
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