Offener Unterricht
Was ist 'Offener Unterricht' Literatur/Medien Schulen - Praxis Forschung Blog


Florian Felten

Florian Felten

Impulse des Offenen Unterrichts für die Schule für Geistigbehinderte
Examensarbeit: Erste Staatsprüfung für das Lehramt für Sonderpädagogik - Uni Köln

Auszug aus Kapitel 5

"Jeder Mensch besitzt seine Welt, eine Welt, die für den Anderen immer nur begrenzt erfassbar ist. Von der Pädagogik und mit ihr den Pädagoginnen und Pädagogen ist nun verlangt, dass wir uns bemühen, die Eigentümlichkeit der Welt des Anderen, des Kindes, zu verstehen. Und dies ist nur möglich, wenn wir uns dem Anderen in seiner einmaligen Andersheit öffnen, indem wir von unseren vorgefassten Meinungen und Einstellungen ablassen und uns auf ihn und seine Welt einlassen." (FORNEFELD 2000)

Dieses Zitat fasst gut die Anforderungen sowohl des Perspektivenwechsels als auch der konstruktivistischen Lerntheorie zusammen und könnte gleichzeitig das Konzept des Offenen Unterrichts nach PESCHEL beschreiben. Wenn man den SchülerInnen das Finden ihres eigenen Lernwegs in die Hand gibt, lässt man sich vollkommen auf deren jeweilige, individuelle Welt ein. Im Einsatz dieses Konzeptes an der Schule für Geistigbehinderte kann man so die drohende "Verschattung des Kindes" (HAUPT 2003, 143; s. o.) vermeiden und setzt gleichzeitig den Perspektivenwechsel um mit seiner Abkehr von der defizitorientierten Sichtweise, hin zu einer Akzeptanz des Schülers in seinem 'So-Sein' als inklusiven Teil der 'ganz normalen Vielfalt' und dessen individuellen Fähigkeiten.

In Kapitel 4 wurden jedoch einige Schwierigkeiten herausgearbeitet, welche bei einer Umsetzung des Konzepts an der Schule für Geistigbehinderte auftreten könnten, sowie die Notwendigkeit festgestellt, Förder- und Therapiekonzepte in den Unterricht einzubinden.

Somit bleibt das in Punkt 2.4 beschriebene 'pädagogische Dilemma' bestehen. LehrerInnen bewegen sich letztendlich stets zwischen zwei Polen: der Selbst- und der Fremdbestimmung. Dies zeigt sich in verschiedenen Aspekten:

  • das Leitziel der Schule für Geistigbehinderte, "Selbstverwirklichung in sozialer Integration", sowie die diesem zugrunde liegenden Prinzipien der Normalisierung, Selbstbestimmung und Inklusion, erfordern die Befähigung der SchülerInnen zur weitestgehenden Selbstbestimmung (vgl. 2.1; 2.3); diese ist aber aufgrund verschiedener Faktoren oftmals begrenzt (vgl. z.B. "Behinderung als soziale Abhängigkeit" (HAHN 1981)).
  • Die konstruktivistische Lerntheorie zeigt, dass "Lernen nicht durch 'Lehren' gemacht werden" (BEGEMANN 2000, 28; vgl. 3.2.2.3), der Lehrer also nicht direkt instruieren kann; aus seinem pädagogischen Auftrag ergibt sich jedoch der Zwang, es trotzdem zu versuchen und dafür geeignete Mittel zu finden ("Organisation der Förderung von Selbstorganisation" (HUSCHKE-RHEIN 2003, 15)).
  • Der drohenden "Verschattung des Kindes" (s. o.) gilt es vorzubeugen; trotzdem haben Fördermaßnahmen einen wichtigen Stellenwert im Bildungsprozess von Menschen mit einer geistigen Behinderung (vgl. Kap. 4).
  • Menschen lernen am Besten aus einer intrinsischen Motivation heraus (vgl. 3.2.2.1); die von der Gesellschaft geforderten und in den Richtlinien und Lehrplänen festgehaltenen Bildungsinhalte sind jedoch nicht automatisch für eine intrinsische Motivation geeignet.

Es könnten noch viele weitere Beispiele gefunden werden. Das Paradox lässt sich wohl nie ganz auflösen, solange z.B. 'Schule Pflicht' bleibt. Doch das stete Bewusstsein darüber, dass man sich zwischen diesen beiden Polen bewegt, und dass Selbstbestimmung als eines der wichtigsten Ziele der (Sonder-)Pädagogik erfordert, die Fremdbestimmung so gering wie möglich zu halten, kann dazu beitragen, innerhalb dieser Pole sinnvoll zu arbeiten.

Um bei dem Bild der Pole zu bleiben: Ich bin der Meinung, dass man mit der Anwendung von Offenem Unterricht nach PESCHEL zunächst vom 'Selbstbestimmungs-Pol' ausgeht. Kinder wollen und sollten selbstbestimmt lernen, also sollte man es ihnen auch auf diese selbstbestimmte Art ermöglichen.

Wenn dann bei der Umsetzung Probleme auftauchen, die sich aus den (Lern-)Vorrausetzungen der SchülerInnen ergeben, kann man überlegen, wie man diese behebt, vermindert, umgeht oder sogar einbindet. Das in der Einleitung als "sonderpädagogisches Handwerkszeug" bezeichnete Wissen (wie z.B. die Förderdiagnostik, Unterstützte Kommunikation, Konzepte wie die Basale Stimulation / Aktivierung / Kommunikation, und allgemein die Kenntnis über Behinderungsarten und entsprechende Fördermaßnahmen), ebenso wie das "allgemeinpädagogische Handwerkszeug" (z.B. didaktische Modelle und Methoden) können und sollten dazu genutzt werden.

Der Perspektivenwechsel erfordert also, diese sonderpädagogischen Kompetenzen nicht mehr länger als grundlegendes Unterrichtsprinzip zu benutzen mit dem primären Ziel, 'die Defekte der behinderten Kinder zu beheben'. Die Gefahr des übermäßigen Vertrauens in die sonderpädagogischen 'Erkenntnisse' beschreibt das folgende Zitat von JOHN nochmals deutlich:

"Schlagworte wie 'Transferschwäche', 'geringe Spontaneität' usw. bestimmen das sonderpädagogische Handeln und legen die beschriebene Zielgruppe auf die genannten Merkmale, ohne Überprüfung ihres Zustandekommens, vorzeitig und nachhaltig fest" (1993, 15; zit. n. KLAUSS 1998, 160).

Die Festlegung auf diese Merkmale und die Planung des Unterrichts gemäß derselbigen kann dann auch tatsächlich zu einem Eintreffen dieser Merkmale führen ('Selbsterfüllende Prophezeiung'). Die Folge ist dann die endgültige "Verschattung des Kindes":

    "Wir gehen mit Störungen, Problemlagen und Übungsfolgen um. Wir merken oft nicht, dass uns dass behinderte Kind dabei fremd bleibt oder wird, weil diese Raster und Denkweisen Abstraktionen sind und uns daher vom Kind entfernen. Wir glauben, das behinderte Kind auf diese Weise erklären zu können. Wir verstellen uns aber so die Möglichkeit, es zu verstehen. Das wiederum begründen wir für uns mit der Behinderung" (HAUPT 2003, 134).
Gerade der letzte Satz kennzeichnet dabei einen Grund dafür, warum die Sonderpädagogik trotzdem so lange an einem defizitorientierten Unterricht festhielt und teilweise noch hält (vgl. KLAUSS 1998, 159f): Die Kategorisierung und Klassifizierung von Behinderungen nach 'objektiven' Gesichtspunkten; die Anwendung von, diesen 'Behinderungsarten' scheinbar entsprechenden, Konzepten; all dies gibt Sicherheit. Was dabei nicht 'funktioniert', wird auf die Behinderung geschoben:

"Aber was ist mit unserer eigenen Wahrnehmungsstörung? Könnte es sein, dass wir unsere eigene Wahrnehmungsverzerrung auf die Kinder projizieren und als deren Wahrnehmungsstörung ansehen?" (HAUPT 2003, 135).Kategorisierung und Klassifizierung von Behinderungen nach 'objektiven' Gesichtspunkten; die Anwendung von, diesen 'Behinderungsarten' scheinbar entsprechenden, Konzepten; all dies gibt Sicherheit. Was dabei nicht 'funktioniert', wird auf die Behinderung geschoben:

"Aber was ist mit unserer eigenen Wahrnehmungsstörung? Könnte es sein, dass wir unsere eigene Wahrnehmungsverzerrung auf die Kinder projizieren und als deren Wahrnehmungsstörung ansehen?" (HAUPT 2003, 135).

"Was ich z. B. an einem anderen Menschen nicht verstehen kann, nehme ich wahr als seine Unverstehbarkeit. Meine Verstehensgrenze wird per Projektion auf den anderen zu dessen Begrenztheit" (FEUSER 1996, 19). Auf diese Weise lässt es sich vielleicht nicht unbedingt besser arbeiten (über- oder unterforderte, im hiesigen Zusammenhang: unverstandene SchülerInnen können sehr anstrengend sein), aber zumindest mit gutem Gewissen ­ man handelt ja nach neuesten sonderpädagogischwissenschaftlichen Erkenntnissen; alle dabei auftretenden Probleme sind eben auf 'die Behinderung' zurückzuführen. Doch, um es mit den Worten von FORNEFELD auszudrücken: "Um wessen Lebensqualität geht es hier eigentlich?" (2002)

Impressum -