Offener Unterricht
Was ist 'Offener Unterricht' Literatur/Medien Schulen - Praxis Forschung Blog

Spiegel-Ente (2006) wird im Focus (2012) wiederholt?

am 19.3.2012 erschien im Focus folgende Meldung:
    "Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, Renate Valtin, hat vor bedenkenloser Toleranz bei fehlerhafter Rechtschreibung in der Grundschule gewarnt. "Die von Jürgen Reichen propagierte Methode ,Lesen durch Schreiben' sollte verboten werden", forderte die Professorin für Grundschuldidaktik im Magazin FOCUS-SCHULE. ..."
Diese Geschichte aus dem Focus wurde über Didacta, den Verband der Bildungswirtschaft am gleichen Tag weiterverbreitet. Auch die Freie Presse Sachsens grösste Zeitung übernahm den Artikel, ebenso die Internetzeitung, Die Yahoo Nachrichten, Für uns - online, auch die Seite EuroWinner (Gewinne und schöne Frauen) übernimmt die Schlagzeile (Rechtschreibexpertin warnt vor falscher Toleranz in der Grundschule (dapd)) und verlinkt auf den Artikel. Weitere Verbreiter sind Kledy, Open Report, ...

Seltsam an der Geschichte ist nur, dass der Spiegel 3.2006 genau diese Äußerung für einen Artikel mit Bezug auf Renate Valtin (dieser Artikel wird unter dem Stichwort Valtin Schon wida ferpend angezeigt. Allerdings in einer Version vom 12.2006. Der Originalbeitrag wird nicht angezeigt. In ihm folgendes berichtet: "Doch nun kommt neuer Elan in die Debatte: Renate Valtin, Leiterin der Abteilung Grundschulpädagogik an der Humboldt-Uni Berlin, hat den Bildungssenator der Hauptstadt aufgefordert, das freie Schreiben in seinem Machtbereich zu unterbinden. Die Nachteile, sagt Valtin, seien inzwischen offenkundig: "Die Schüler entwickeln alle ihre eigene Orthografie. Und hinterher müssen sie sich das mühsam wieder abgewöhnen.")"

Im Spiegel 3/2006 und 12/2006 ist sie mit einem Satz zitiert, der, wie sie sagt, frei erfunden ist:
    "Renate Valtin hat den Bildungssenator der Hauptstadt aufgefordert, das freie Schreiben in seinem Machtbereich zu unterbinden. Quatsch, sagt die Professorin, sie habe bereits 1986 in dem Buch Schreiben ist wichtig die Vorteile des freien Schreibens herausgearbeitet. Auf Nachfrage räumt der Spiegel ein, Renate Valtins Kritik übermäßig verallgemeinert zu haben."

In Leserbriefen damals schreibt Valtin:

    "Mit großer Verwunderung habe ich gelesen, dass ich den Berliner Bildungssenator aufgefordert hätte, das freie Schreiben zu unterbinden. Das ist eine Zeitungsente. Auch habe ich mich nicht gegen das freie Schreiben ausgesprochen, das ich für einen wichtigen Bestandteil des Erstunterrichts im Schriftspracherwerb halte, und zwar kombiniert mit einem systematischen Vorgehen beim Lesenlernen anhand von Schlüsselwärtern, so wie es der vielfach überarbeitete halboffene Leselehrgang "Fara und Fu" realisiert. Ausgesprochen habe ich mich allerdings gegen den Ansatz "Lesen durch Schreiben", der in der Tat viele Nachteile in sich birgt, vor allem für die Kinder, die kein lautreines Hochdeutsch beherrschen.

    Berlin, Prof. Dr. Renate Valtin
    Abteilung Grundschulpädagogik
    Humboldt Universität"

Der komplette Artikel, der die 'typische Spiegelgeschichte' von 2006 nachzeichnet inklusive der Reaktionen des Spiegel und Leserbriefen findet sich im Blog für Medienkritik: Spiegelkritik

Ein interessantes Stück Pressegeschichte. Nur das diesmal nicht der Kultusminister in Berlin herhalten muss, sondern Focus-Schule das Forum bietet.

Ärgerlich ist besonders, dass die Methode Reichens: "Lesen durch Schreiben" und ihr Bezug zum Offenen Unterricht auf diese Weise bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurde. Die Argumente pro und contra mag man gar nicht mehr hören, weil hier ja doch Meinung gegen Meinung steht.

Lesen durch Schreinen ermutigt Kinder in der Tat, nach Gehör zu schreiben. Allerdings lernen diese dadurch weder eine eigene Orthografie, die sie sich später wieder mühsam abgewöhnen müssen, noch birgt der Ansatz viele Nachteile für Kinder, die kein lautreines Hochdeutsch beherrschen. Rechtschreibung entwickelt sich wie gesprochene Sprache in der täglichen Anwendung, nicht durch spezifische Übungen oder Lehrgänge.

Dürfen die Kinder auf ihre Weise lernen, lernen sie die richtige Verschriftung 'by the way'. Natürlich braucht es eine LehrerIn, die dann, wenn Kinder fragen, diese Fragen mit ihnen klärt. Es braucht aber keine Lehrerin, die mit den Kindern ungefragt die richtigen Schreibweisen einübt, die die Rechtschreibregeln eintrainiert und rot umrandet ins Heft diktiert.

Für Reichen geht es um das Kriterium der Einsichtigkeit.
    "Das man 'Boot', 'Bohne' bzw. 'Strom' schreibt ist dem Schulanfänger nicht einsichtig zu machen - und daher akzeptiere ich auch 'Bot', 'Bone' (oder Schdrom, JG). Das aber 'HS' nicht 'Hose' heisst, das ist einsichtig zu machen - und das darf nicht toleriert werden. Skelettbeschreibungen (von Worten, JG) verschwinden meist 'von selbst', trotzdem greife ich ein. Wo ich Lernprozesse beschleunigen kann, tue ich es."
    [Jürgen Reichen, (1997): Antwort auf die im Voraus gestellten Fragen der Fachtagung 'Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben' vom 10. März 1997. Unv. Manuskript, Soest (Landesinstitut für Schule und Weiterbildung) 1997; zitiert nach Peschel, Falko (2006): Offener Unterricht in der Evaluation, Baltmannsweiler, S. 191f]

Reichen ist z.B. auch dagegen, dass Lesen seperat geübt wird. Im Spiegelartikel 12.2006 wird daraus ein 'wunderliches Leseverbot'. Das grenzt schon an vorsätzliches Missverstehen.

Der Spiegel berichtet denn auch, dass 'Reichens reine Lehre' kaum noch im Einsatz ist. Trotzdem wird dann von einem Vergleich 'herkömmlichen Lesenlernens' und 'Lesenlernen nach Reichen' berichtet, bei dem dann Lesen durch Schreiben - die Methode Reichen - ein einziger Misserfolg ist. Alle Hinweise auf die Untersuchung fehlen jedoch. So wird auch nicht berichtet, ob denn 'Reichens reine Lehre' zum Zuge kam oder was auch immer sonst. Es ist also völlig unklar, was miteinander verglichen wurde.

Mehr zu: 'Freies Schreiben und Rechtschreiben' im Kapitel 5.2. von Peschel, Falko (2006), S. 191 - 203

Jürgen Göndör, 28.3.2012

Impressum -