Das Buch "Offener Unterricht" beginnt mit einer Bestandsaufnahme von dem, was so schulläufig unter 'offenem Unterricht' verstanden wird. Peschel stellt fest, dass der Unterricht freundlicher geworden ist - aber auch, dass offener Unterricht nichts mit einer positiven Einstellung zum Kind zu tun haben muss. Vor allem stellt er aber fest, dass seine Suche an vielen Schulen erfolglos war. Die Lehrer hatten immer die Zügel in der Hand, bestimmten den Freiheitsraum der Kinder. Offen an diesem Unterricht war, dass die Kinder wählen konnten, ob sie dieses oder jenes Arbeitsblatt zuerst oder eben später ausfüllten, in welcher Reihenfolge sie die gestellten Aufgaben aberledigten, mit welcher SchülerIn sie zusammenarbeiten wollten. Das Tagesergebnis dieses 'offenen Lernens' war in der Regel dürftig. Selbst Wochenpläne gerieten zu konkreten Aufgabenstellungen. Nur in der Kür der Wochenpläne gab es etwas mehr Abwechslung: Noch mehr Aufgaben.
Bestenfalls war der Unterricht nicht mehr lehrerorientiert sondern 'materialorientiert':
Auszug aus einem lehrer-/materialorientierten Wochenplan:
Übe das Wochendiktat zum Frühling im Igelheft.
Fülle das Arbeitsblatt zum "ck" aus
Lies das Frühlingsgedicht auf S. 105 im Lesebuch und lerne es auswendig.
Rechne die Aufgaben auf Seite 43 und 44 im Mathematikbuch
...
Male ein Unterwasserbild aus blauen Farben wie das an unserer Wand.
Flötenkinder: Am Mittwoch Instrument mitbringen und unser Musikstück noch mal üben.
Freiarbeit: Du kannst Übungen zum Einmaleins oder zum Diktat machen [S.11]
Ganz schnelle Kinder dürfen dann auch noch die Pumuckel-Figuren auf den Arbeitsblättern ausmalen.
So stellt Peschel vor, was z.B. das Landesinstitut Soest unter Wochenplan versteht:
Der Wochenplan legt fest, welche Pflicht- und Wahlaufgaben die Schüler bearbeiten sollen [...]. die Schüler bestimmen selbst, z.T. in Absprache mit den Partnern, die Reihenfolge der Bearbeitung, die Sozialform, ihr Arbeitstempo, den Umfang der erwünschten Hilfen und der freiwilligen Aufgaben. Der Lehrer berät und hilft bei dieser Arbeit. Im Laufe der Grundschulzeit tritt er mit seinen Vorgaben zurück und ermöglicht, dass der Schüler schrittweise Aufgaben für den Wochenplan selbst auswählt und selbstverantwortlich die freie Zeit nutzt.
Dabei beziehen sich Wahl- und Pflichtaufgaben auf den aktuellen Lernstoff. Peschel stellt fest, dass er dem letzten Satz - das Zurücktreten des Lehrers mit seinen Vorgaben - nie im Zusammenhang mit Wochenplanunterricht nie begegnet ist.
Ähnlich sieht er die Freie Arbeit:
"Dabei ist die Freie Arbeit kein durchgehendes Unterrichtsprinzip, sondern beschränkt sich auf Übungsphasen, die durch Informationsunterricht bzw. die Einführung bestimmter Inhalte ergänzt werden. Oft wird die freie Arbeit auch wie ein eigenes Fach behandelt, dass heißt es gibt jeden Tag bzw. in der Woche bestimmte Stunden "Freier Arbeit". Im Allgemeinen stützt sich diese Freie Arbeit dann auf ein größeres Angebot von Lern- und Übungsmaterialien, die entsprechend dem Curriculum auf die aktuellen Lerninhalte der Klassenstufe abgestimmt sind [...]. [S. 16]
Entsprechend fällt sein Urteil aus:
Es ist meist kein eigenes Erarbeiten von neuen Themen durch den Schüler möglich
Die Abhängigkeit vom (geschlossenen) Material ermöglicht keine qualitative Verbesserung des Zuganges zum Stoff
Die "Lehrerrolle" verlagert sich ins Material, das aber starr ist und nicht auf das lernende Individuum reagieren kann
Das Material ist eher willkürlich nach Vorhandensein denn nach Qualität zusammengestellt
Großer Motivationsaufwand innerhalb der Materialien - Lernen wird als billige Unterhaltung verkauft und dadurch wird die intrinsische Motivation des Kindes ... beschnitten
Lernen wird zum "Aberledigen" möglichst vieler Aufgaben - anstatt zu einer qualitativen Auseinandersetzung mit Inhalten ...
Schule wird schnell zur Beschäftigungstherapie, bei der die Arbeit des einzelnen Kindes ... oft gar nicht zu begründen ist und stattdessen dem Lehrplan ... zugeschrieben wird
Ähnlich beurteilt er den Projektunterricht:
"Wenn Projekte zu Hobbywochen oder Pressepräsentationen verkommen, lassen sich die Ziele des Projektlernens nicht mehr erfüllen" [S. 26]:
Der Projektunterricht wird selten als "richtiger" Unterricht, sondern als Bonbon im Schulalltag angesehen ...
Die eigentlichen Ziele des Projektunterrichts (Demokratie, Erwerb methodischer und inhaltlicher Kompetenz durch eigene bzw. gemeinsame Problemlösung einer Ernstsituation) werden meist weder beabsichtigt noch verfolgt - der Projektbegriff kennzeichnet alles, was keine "richtige" Schule ist
Weder Schüler noch Lehrer empfinden Projektunterricht als berechtigte bzw. effektive Unterrichtsmethode, sondern eher als auflockernde "Hobbywoche" - mit der Folge, dass die bei Projekten entwickelte "Lernbegeisterung nicht mit effektivem Lernen in Beziehung gebracht wird - und entsprechend nicht als längerfristiges Unterrichtsprinzip anerkannt wird.
Selbst neumodischen Lernarrangements wie Werkstattunterricht und Stationslernen kann Peschel nicht viel positives abgewinnen:
Die Qualität der Angebote ist oft bedenklich
Lernen wird zum "Aberledigen" möglichst vieler Aufgaben - anstatt einer qualitativen Auseinandersetzung mit Inhalten bzw. der Anwendung und des Ausbaus eigener Lernmethoden
Großer Zeitaufwand zur Herstellung der Angebote
Angebote werden "konstruiert", um den Anspruch an fächerübergreifendes oder ganzheitliches Arbeiten zu erfüllen
Nachdem nun Peschel wie ein enfant terrible im Porzellanladen kein gutes Stück der modernen Unterrichtspraxis heil gelassen hat fragt man sich zu Recht: "Ja wie denn dann?".
Peschel bleibt keine Antwort schuldig: In zwei Bänden beschreibt er einen Offenen Unterricht" der den Kindern
die organisatorische Freiheit zugesteht, wo und mit wem sie arbeiten wollen,
der ihnen erlaubt, den eigenen Lernweg zu wählen (methodisch),
ihr Lernthema frei zu bestimmen (inhaltlich),
ihnen die Bestimmung von Entscheidungen bezüglich der Klassenführung bzw. des gesamten Unterrichts, der (langfristigen) Unterrichtsplanung, des konkreten Unterrichtsablaufes, gemeinsamer Vorhaben usw.,
die Bestimmungen des sozialen Miteinanders bezüglich der Rahmenbedingungen, dem Erstellen von Regeln und Regelstrukturen zugesteht (sozial)
und letztlich auch die Beziehung zwischen Lehrer/Kindern und Kindern/Kindern (auf "Gleichberechtigung" abzielende "innerschulische" und "überschulische" Beziehung ermöglicht.
Wie dieses Lernabenteuer über 4 Jahre in einer Grundschulklasse funktioniert - zur Zufriedenheit der Eltern und der Schulleitung, Wie sich in dieser Lernumgebung schon für die Sonderschule vorgemerkte Kinder verhalten, wie sich schwierige Kinder entwickeln, wie diese Kinder dann in weiterführenden Schulen zurechtkommen und wie ihr "Leistungsstand" gegenüber regulär beschulten Kindern ist -
muss man dann aber selbst nachlesen:
Falko Peschel: Offener Unterricht - Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept in der Evaluation