Offener Unterricht: Am Anfang oder am Ende ?
Plädoyer für ein Überdenken "freier Arbeitsformen"
Autor: Falko Peschel
Schule im 21. Jahrhundert - Schule im Umbruch?
Schon seit dem Erscheinen der letzten Richtlinien für die Grundschule Mitte der achtziger Jahre ist die Reform der Grundschule legitimiert, Lehrer und Schulaufsicht lösen sich schneller oder langsamer von alten Konzepten und versuchen, eine andere, neue Schule zu machen.
Kernpunkt der Reform ist die Öffnung von Schule; der lernzielorientierte Frontalunterricht weicht der Idee eines "Offenen Unterrichts". Einige Schulen sind sofort dabei, sehen Schule als Lern- und Lebensraum der Kinder, nutzen die ihnen jetzt durch unverbindlicher formulierte Lehrpläne anvertraute Freiheit und entwickeln engagiert eigene Schulprogramme. Andere Schulen sind schwerfälliger, halten die neuen Methoden entweder für eine wieder vorbeigehende "Masche" wie seinerzeit die Mengenlehre oder aber "haben es ja immer schon so gemacht".
Was herauskommt ist eine Praxis Offenen Unterrichts, die verschiedener nicht sein könnte. Dem Offenen Unterricht vorangestellte Unterrichtsmethoden wie Freiarbeit, Wochenplan und Projektunterricht werden -da indirekt vorgeschrieben - mittlerweile formal von den meisten Lehrern bzw. Schulen praktiziert. Beleuchtet man aber das, was dort im Unterricht passiert, so ist von einem "offenen" Unterricht oft nichts zu spüren: Freiarbeit pendelt zwischen Laisser-faire und strengen Vorgaben hin und her und der Wochenplan ist die Zusammenfassung aller vorher einzeln ausgegebenen Arbeitsblätter anstelle einer auf das einzelne Kind abgestimmten Arbeitshilfe zum selbständigen Lernen. Projektunterricht in Reinform weicht "Alibi-Projektwochen", die meist komplett von den Lehrern vorgegeben werden und in themenzentrierten Unterrichtsreihen oder "Hobbyprogrammen" mit anschließender Ergebnisausstellung zur "Schulpromotion" enden.
Wer dabei auf der Strecke bleibt, sind Kind und Reform. Beim "Vorschreiben" freien Arbeitens durch die Richtlinien hat man nicht bedacht, dass das mit der Praktizierung freier Lernformen einhergehende Vertrauen in das selbständige Lernen der Kinder bei vielen Lehrpersonen so nicht vorhanden ist. Die Folge ist klar: Man überträgt die neuen Begriffe auf die alte Praxis - die Begriffe verwaschen. Die Utopie eines Offenen Unterrichts ist - nach einem missglückten Start Anfang der siebziger Jahre- durch aktuelle Konzepte wie "Lesen durch Schreiben", "Mathe 2000" und Werkstattunterricht zwar nun scheinbar wieder hoffähig geworden, hat sich im Prinzip aber selbst verloren und stellt nur noch die blasse Kontur des ursprünglichen Ideals dar:
selbständige Kinder arbeiten intensiv und mit Spaß an eigenen Aufgaben, gestalten sich ihre Schule und ihren Unterricht gemeinsam selber.
Besinnt man sich wieder auf dieses Ideal, so wird der Missbrauch der oben angesprochenen freien Unterrichtsformen offenbar. Das Vertrauen in die Kinder lässt keine Kompromisse zu. Der Lehrer muss die Schüler vom ersten Tag an wirklich selbständig arbeiten lassen. Er muss sie als Individuen sehen und annehmen. Er muss ihnen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen, darf dabei aber nicht ihre Selbständigkeit einschränken.
So verstandener Offener Unterricht zeigt die Ziele von Freiarbeit, Wochenplan und Projektunterricht wieder anschaulich und fasst die Arbeitsformen im Endeffekt auch wieder zusammen: Freiarbeit ist die individuelle Beschäftigung mit selbstausgesuchten Themen und kreativen, eben nicht rein reproduktiven Materialien, Wochenplan die individuelle Organisationshilfe, die sich der einzelne Schüler selbst zusammenstellt und Projektunterricht das gemeinsam geplante Angehen eines zusammen ausgesuchten Themas.
Dabei muss nicht jede Stunde Unterricht in der Schule Offener Unterricht sein, aber dieser muss immer die Ausgangsbasis darstellen. Das Vertrauen des Lehrers in die Schüler muss bei jedem Fach und jeder Methode ehrlich und für die Kinder offensichtlich sein. Halte ich als Lehrer einen großen Teil "Informationsunterricht" für notwendig, so müssen diese Phasen aus dem Unterricht situativ begründbar sein und so für den Schüler transparent sein. Nur so kann eine innere Lernbereitschaft entstehen; man muss wissen, wofür man etwas lernt.
Läuft der lehrerzentrierte Unterricht nicht nach diesem Grundsatz ab, so können die offeneren Phasen nur ein nicht ernst gemeintes Alibi zur "Richtlinienverwirklichung" darstellen, denn pädagogisch ist dieser harte Wechsel des "Erziehungsstils" nicht zu rechtfertigen, da sich die Schüler notgedrungen in einer aussichtslosen Doppelbindungssituation befinden: Einerseits größtmögliche Anpassung an den vorgegebenen Stoff, den Lernweg, an Zeit und Raum, andererseits kreatives Entdecken und selbständiger Wissenserwerb auf individuellem Weg. Diesen Widerspruch zu überwinden, das können nur die intelligentesten und anpassungsfähigsten Kinder schaffen.
Schön wäre es, wenn wieder viele Lehrer Vertrauen in die ihnen anvertrauten Kinder und ihr Lernen fassen und ihre Zeit nicht mit "Motivationstricks" und "Überdifferenzierung" verschenken würden, ihre Arbeitsmittelsammlungen auf ein paar wirklich wertvolle, kreativitätsfördernde, zum Selber-Entdecken und Selber-Denken anregende Materialien reduzieren würden (z.B. nur weiße Blätter und Sachbücher) und so den Kindern die Chance gäben, dem schulischen Konsum zu entgehen und einmal wirklich selbst arbeiten zu dürfen.
Und dies ganz, ganz konsequent und mit einem hohen Ideal!