Offener Unterricht und lernschwache Kinder - Fallstudien 1
Peschel hat 3 Fallstudien durchgeführt, in denen er den Lernerfolg von lernschwachen Schülern im offenen Unterricht genauer betrachtet. Im Teil II des Bandes: Offener Unterricht in der Evaluation, Baltmannsweiler 2006, werden sie in gekürzter Form vorgestellt (S. 667 -771). Es sind nicht etwa Kinder, die 'im Geheimen' überdurchschnittlich intelligent sind. Hier ein Einblick:
Fedor (S. 668 - 695)
1. Schuljahr
Fedor schneidet im IQ-Test unterdurchschnittlich ab. Fedor ist bosnischer Kriegsflüchtling und lebt im Heim für Asylsuchende, unter sehr beschränkten Verhältnissen, kann später aber mit seiner Familie in neu eingerichtete Mehrfamilienhäuser umziehen. er selbst und sein Bruder sprechen 'ganz passabel' deutsch, die Eltern weniger. Sein Aufenthalt ist überschattet von der Rückführung der Familie, die sich aber erst nach der Grundschulzeit verwirklicht. In der Schule ist er ehr zurückhaltend, der sprachliche Bereich fällt ihm schwer, er beschäftigt sich lieber mit Mathe als mit schreiben von Sachtexten oder dem Lesen von Geschichten. Seine Bilder sind von Kriegeserlebnissen geprägt. Er hat mit dem selbständigen Arbeiten Schwierigkeiten, er mag lieber konkrete Arbeitsaufträge oder die Zusammenarbeit mit einem nicht-deutschen Freund.
Auszüge aus dem Berichtszeugnis nach dem 1. Schulhalbjahr:
Hinweise zum Arbeits- und Sozialverhalten
Lieber Fedor,
Du hast im letzten halben Jahr eine Menge gelernt. Oft weißt Du aber nicht, was Du machen könntest und jemand muss Dich fragen, ob Du nicht rechnen oder schreiben willst. Hast Du denn gar keine eigenen Ideen?
Wenn Du dann arbeitest, kannst Du das immer besser auch alleine ohne Hilfe.
Mit den anderen Kindern kommst Du gut zurecht. Manchmal bist Du aber auch zu schüchtern, den anderen Kindern zu sagen, was Du denkst. Da Du gut Deutsch sprichst, kann es doch eigentlich nicht an der Sprache liegen, oder?
Hinweise zu den Lernbereichen/Fächern:
Du kannst schon gut schreiben, am besten dann, wenn Du langsam schreibst und das danach noch einmal liest. Denn Lesen kannst Du auch schon. Bald kannst Du Deine Geschichten selbst vorlesen! Deine 'Alter-Opa-Geschichte' wollen die Kinder immer noch hören. Du schreibst tolle Geschichten!
Rechnen kannst Du auch gut, noch besser wäre das, wenn Du ein bisschen mehr üben würdest. Du siehst, man kann immer etwas tun.
Forschersachen hast Du noch nicht so viele gemacht, vielleicht überlegst Du Dir mal etwas spannendes?
Ich freue mich auf das nächste halbe Jahr mit Dir.
Im zweiten Schulhalbjahr öffnet er sich anderen Kindern. Diese arbeiten gerne mit ihm. Hin und wieder - aber immer öfter - meldet er sich in den Gesprächsrunden und sagt, was er anders sieht oder ihn stört. Er schreibt kleine Geschichten, die den anderen Kindern gut gefallen. Auch denkt er sich gerne kniffelige Matheaufgaben aus. Allerdings greift er lieber auf Impulse anderer Kinder oder des Lehrers zurück. Freiwillige Arbeiten als Hausaufgabe macht er nur selten.
2. Schuljahr
Fedor arbeitet immer selbständiger. an vielen Tagen schreibt er Geschichten oder denkt sich schwierige Matheaufgaben aus. Es gibt auch immer wieder Tage, an denen er nur Sachen macht, die er schon kann. Impulse des Lehrers nimmt er gerne an. die anderen Kinder bestätigen ihm, dass er gute Geschichten schreibt. Bei einem Schönschreibwettbewerb auf Initiative der Kinder war Fedor einer der Sieger.
Im zweiten Schulhalbjahr schätzt sich Fedor selbst negativer ein, als vorher. Das deckt sich mit dem Eindruck anderer Kinder, dem des Lehrers und der Mutter. Auch mit der größer werdenden Unsicherheit der Familie nach Bosnien zurückkehren zu müssen.
Die anderen Kinder finden, dass Fedor weniger schreibt als früher. Seine Leseleistung werden von ihnen als 'mittel' betrachtet, ebenso seine Forscheraktivitäten. hier wird er aber von seinen Mitschülern stark ermuntert. er selbst will im nächsten Schuljahr viel über Bäume und Tiere lernen, in den Zoo gehen und Fußballspielen.
3. Schuljahr
Fedors Arbeitsverhalten erleidet einen starken Einbruch. Auch seine Teilnahme an gemeinsamen Gesprächen nimmt deutlich ab. er schreibt einfache, sich ähnelnde Geschichten. Er vergisst Buchstaben und macht mehr Rechtschreibfehler. Auch in Mathe tut er kaum noch was. Das schlägt sich natürlich auch im Zeugnis nieder:
Mathe: Du kannst Plus- und Minusaufgaben im Tausenderraum lösen, größere Aufgaben ohne Überschreitung auch. Wenn Du in diesem Halbjahr mehr gerechnet hättest, wären Aufgaben aller Größen kein Problem für Dich. Auswendig kannst Du +, - * und :, das große Einmaleins wartet noch auf Dich, obwohl Du die Aufgaben bestimmt schon lösen kannst. Gib Dich dran! Deine Rechengeschichten sind gut, Du hast auch keine Angst vor schwierigeren Aufgaben.
und:
Du hattest Dir zwar vorgenommen, mehr zu lesen, hast das aber nicht gemacht. Entsprechend liest Du auch noch nicht flüssig. Auch bezüglich der Betonung der Wörter hat sich im letzten Halbjahr nicht viel getan. Du musst wirklich einfach mehr lesen, damit Du Deine schlechten Ausgangsbedingungen auffangen kannst.
Deine Geschichten sind zwar besser geworden, aber Du hast wiederum nicht sehr viele geschrieben. Ich denke, dass Dir das Lesen auch hier viele Anregungen geben kann und zugleich deinen Wortschatz erweitern wird. Da solltest Du wirklich mehr machen!
Obwohl Du geübte Texte sogar fehlerfrei schreibst, hast Du beim Rechtschreiben wieder nur sehr geringe Fortschritte gemacht, Deine Leistungen werden hier im Vergleich immer schwächer. Du musst einfach mehr lesen und schreiben, denn viele Fehler liegen daran, dass Du für Dich nicht geläufige Wörter verwendest und diese dann nicht richtig schreibst, weil Du nicht genau hinhörst. Zugleich bist Du unsicher mit den Besonderheiten bei der Rechtschreibung (Buchstaben verdoppeln, zusätzliche 'h's und so weiter) und überlegst auch oft nicht, aus welchen Wörtern andere zusammenbebaut sind.
4. Schuljahr
Im ersten Halbjahr gehen Fedors Leistungen noch weiter zurück. Zu diesem Zeitpunkt bereitet sich die Familie fast monatlich auf die Rückführung nach Bosnien vor.
Sein Arbeitsverhalten ändert sich erst, als die Familie erfährt, dass sie bis zum Ende der Grundschulzeit von Fedor bleiben kann. Jetzt ist er wieder motiviert und steigert sich nicht unerheblich. Mathe ist gut, der Sprachgebrauch befriedigend. Rechtschreiben zwischen gut und mangelhaft, je nach Kriterium.
Peschel erörtert in der weiteren Fallstudie im einzelnen die Entwicklungen von Fedor in den einzelnen Bereichen. Trotz der schlimmen Umstände: Fedor
- muss eigene Kriegserlebnisse verarbeiten und malt oft Häuser ohne Dächer, schreibt über Tiere, die Freunde suchen und finden
- hat ein anregungsarmes familiäres Umfeld (fast keine Bücher oder Spielsachen)
- lebt in einer bedrückenden häuslichen Situation - der Vater darf nicht arbeiten
- hat keine Ausweichmöglichkeiten zum Spielen zu Hause (primär Fernsehgucken)
- hat nur eingeschränkte Spielmöglichkeiten in der Asylantenbaracke bzw. auf dem Belände des Bauhofes (Fußball)
- lebt in räumlicher Ferne von Klassenkameraden (erst im Industriegebiet, dann in einem anderen Ortsteil)
- hat im Hinblick auf die deutsche Sprache kaum Anregungspotential (Eltern sprechen bosnisch), keine Bücher, ...
- hat das Problem der Zweisprachigkeit, ohne eine der beiden Sprachen wirklich zu können
- und lebt in der fast ständigen Ungewissheit, wann die Rückführung kommt, obwohl die Familie lieber in Deutschland bleiben würde.
Seine tatsächlichen Leistungen werden wie bei allen Kindern der Klasse durch Normtests ermittelt. Er erreicht in Mathematik Gymnasialniveau, in der deutschen Sprache Hauptschul- bis Realschulniveau. Er konnte seine Kriegserlebnisse verarbeiten ohne den Anschluss an die Klasse zu verlieren. Es findet sich auch kein Anhaltspunkt dafür, dass der offene Unterricht Fedor geschadet hätte oder das Fedor in einer anderen Unterrichtsform bessere Leistungen erbracht hätte.